Totgesagte leben länger – die Wiedergeburt der HOAI-Aufstockungsklage
Der Europäische Gerichtshof hat am 14. Juli 2019 in einem von der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren (Az. C-377/17) entschieden, dass der verbindliche Preisrahmen der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (kurz HOAI) gegen die europarechtliche Dienstleistungsrichtlinie verstößt. Der nationale Gesetzgeber hat daraufhin am 1. Januar 2021 eine neue Fassung der HOAI verabschiedet und darin den harten Preisrahmen abgeschafft. Viele sahen darin das Ende sogenannter Aufstockungsklagen, bei denen ein Architekt oder Ingenieur entgegen einer ursprünglichen Vergütungsvereinbarung, die ein Honorar unterhalb der Mindestsätze vorsah, eben diese Mindestsätze von seinem Auftraggeber verlangt.
Das Hanseatische Oberlandesgericht hat diese Annahme mit seiner Entscheidung vom 27.11.2020 (8 U 147/19) relativiert. Nach zutreffender Auffassung des OLG steht das EuGH-Urteil aus 2019 Aufstockungsklagen nur dann entgegen, wenn die Parteien zwar bei Auftragserteilung eine schriftliche und damit formwirksame Honorarvereinbarung getroffen haben, das darin vorgesehene Honorar aber unter den Mindestsätzen liegt. Allein die Unterschreitung der Mindestsätze begründete bislang das Recht des Architekten oder Ingenieurs, seine Honorarforderung auf eben diese Mindestsätze aufzustocken. Die EuGH-Entscheidung hat aber keine Auswirkungen auf Fälle, in denen die Honorarvereinbarung schon wegen eines Formfehlers unwirksam ist, weil sie entgegen § 7 Abs. 1 HOAI alt nicht bei Auftragserteilung schriftlich getroffen wurde. Verstöße gegen diese Form kommen in der Praxis indes häufig vor. Denn beide Voraussetzungen – die Schriftlichkeit und der Abschluss der Honorarvereinbarung direkt bei Auftragserteilung – müssen kumulativ vorliegen. Wenn der Auftraggeber den Auftrag erteilt und erst dann eine schriftliche Honorarvereinbarung mit dem Planer abschließt, ist diese Honorarvereinbarung unwirksam, obwohl die Schriftform gewahrt wurde.
Das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts ist ein wichtiger Wegweiser für Honorarklagen zumindest in Hamburg. In der Praxis besteht zwischen Auftragserteilung und Honorarvereinbarung regelmäßig eine zeitliche Zäsur. Diese Zäsur führt auch dann zur Unwirksamkeit der Honorarvereinbarung, wenn die Vereinbarung den nicht unerheblichen Anforderungen der Rechtsprechung an die Schriftform (normale E-Mail ohne besondere elektronische Signatur reicht nicht aus!) genügt. Treffen die Parteien eine unwirksame Honorarvereinbarung, wird nach § 7 Abs. 6 HOAI 2013 vermutet, dass die Mindestsätze vereinbart wurden. Diese Regelung hat der EuGH gerade nicht für unwirksam erklärt, sondern nur die zwingende Anwendung der Mindestsätze für formwirksame Honorarvereinbarungen. Damit gilt § 7 Abs. 6 HOAI weiter und ist unabhängig von der EuGH-Rechtsprechung durch deutsche Gerichte anzuwenden. Dies scheint auch den deutschen Gesetzgeber dazu bewogen zu haben, die Vermutungsregelung in der Neufassung der HOAI 2021 beizubehalten und nicht aufzuheben (§ 7 Abs. 1 S. 2 HAOI neu).
Fernab dessen hat der EuGH am 18.01.2022 (C‑261/20) eine Grundsatzentscheidung zu der Frage getroffen, ob und in welchem Umfang sein Urteil vom 14.07.2019 Auswirkungen auf laufende Honorarstreitigkeiten zwischen Privatpersonen hat. Für viele überraschend konstatiert das Gericht, dass seine Entscheidung aus dem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland aus 2019 nach § 260 AEUV nur den Mitgliedstaat bindet und nicht zwangsläufig bewirkt, dass deutsche Gerichte die für unwirksam erklärte Norm nicht anwenden dürften. Auf den ersten Blick scheint es so, als wäre damit die EuGH-Entscheidung vom 14.07.2019 für Honorarstreitigkeiten zwischen Privatpersonen bedeutungslos. Allerdings betont der EuGH, dass die nationalen Gerichte gehalten sind, nationale Regelungen soweit es ihnen möglich ist unionskonform auszulegen. Nur wenn eine solche unionskonforme Auslegung so weit geht, dass sie einen Verstoß gegen nationales Recht bedeuten würde, darf das nationale Gericht die EuGH-Entscheidung ignorieren und die darin für unwirksam erklärte Vorschrift im Einzelfall anwenden. Durch die Hintertür schafft der EuGH damit eine erhebliche Rechtsunsicherheit, denn letztlich wird niemand prognostizieren können, wie die Instanzgerichte im Rahmen des ihnen durch den EuGH eingeräumten Ermessensspielraum entscheiden werden. Dessen war sich offensichtlich aber auch der EuGH bewusst, verweist er doch auf die Möglichkeit, dass sich der Architekt/Ingenieur im Falle eines Unterliegens vor Gericht im Wege der Staatshaftung bei der Bundesrepublik Deutschland schadlos halten kann.
Verfasser: RA Bjarne Brummund