Keine Aufklärung, kein Lohn? – geht der Unternehmer leer aus, wenn er nicht über das Widerrufsrecht des Verbrauchers aufklärt?
Der EuGH hat nach Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens des Landgerichts Essen mit Urteil vom 17. Mai 2023 – Rs. C-97/22 entschieden: Ein Verbraucher ist von jeder Verpflichtung zur Vergütung der Leistungen befreit, die in Erfüllung eines außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrags erbracht wurden, wenn ihm der Unternehmer die Informationen über die Möglichkeiten des Widerrufs nicht übermittelt hat und der Verbraucher sein Widerrufsrecht nach Erfüllung des Vertrags ausgeübt hat.
Kann es also sein, dass der Verbraucher die gesamte erbrachte Werkleistung des Unternehmers in Anspruch nehmen kann, ohne den Werklohn oder Wertersatz leisten zu müssen, nur weil er nicht über sein Widerrufsrecht aufgeklärt wurde?
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Verbraucher schloss mit einem Unternehmer einen mündlichen Vertrag über die Erneuerung der Elektroinstallation seines Hauses, ohne dass der Auftraggeber ihn über sein Widerrufsrecht unterrichtet hatte. Nach Erbringung der vereinbarten Leistungen wurde eine entsprechende Rechnung gestellt, die nicht beglichen wurde. Der Auftraggeber erklärte erst daran anschließend den Widerruf des Vertrages. Die Werklohnforderung aus der Rechnung wurde später beim Landgericht Essen eingeklagt.
Zum rechtlichen Hintergrund: Nach den §§ 355, 356 BGB steht dem Auftraggeber ein Widerrufsrecht des Bauvertrages zu, wenn er diesen als Verbraucher mit einem Unternehmer geschlossen hat. Die Frist für den Widerruf beträgt zwei Wochen nach Abschluss des Vertrages. Darüber hat ihn der Auftragnehmer aufzuklären. Gemäß den §§ 355, 357 BGB sind die bis zum Widerruf erbrachten Leistungen von beiden Parteien grundsätzlich zurückzugewähren.
Nach Ansicht des Landgericht Essens hing daher die Entscheidung von der Auslegung des Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/83 ab. Dieser besagt:
„Sofern (…) nichts anderes vorgesehen ist, kann der Verbraucher aufgrund der Ausübung seines Widerrufsrechts nicht in Anspruch genommen werden.“
Der Verbraucher soll also aufgrund seines Widerrufs von dem Unternehmer nicht in Anspruch genommen werden dürfen. Das Landgericht Essen fragte sich daher, ob dieser Art. 14 Abs. 5 jeglichen Anspruch des Unternehmers auf „Wertersatz“ auch dann ausschließe, wenn der Verbraucher sein Widerrufsrecht erst nach Erfüllung des Vertrages ausgeübt und damit nach allgemeinen bereicherungsrechtlichen Grundsätzen einen Vermögenszuwachs erlangt hat. Da die Entscheidung einer europarechtlichen Auslegung bedurfte, legte das Landgericht Essen die Frage dem EuGH vor. Mit genanntem Urteil wird diese Frage bejaht.
Die Entscheidung wurde sehr verbraucherfreundlich begründet:
Der Verbraucher habe in einem solchen Fall der unterlassenen Aufklärung über die Möglichkeiten eines Widerrufs, in keiner Weise für die Leistungen aufzukommen, die während der Widerrufsfrist ganz oder teilweise an ihn erbracht werden. Entscheidend dabei sei, dass die unterlassene Aufklärung über den Widerruf dazu führt, dass sich die Widerrufsfrist gemäß § 356 Abs. 3 BGB um zwölf Monate verlängert.
Das Widerrufsrecht solle den Verbraucher in dem besonderen Kontext des Abschlusses eines Vertrags mit einem geschäftlich geübten Unternehmer schützen, in dem der Verbraucher möglicherweise psychisch unter Druck stünde oder einem Überraschungsmoment ausgesetzt sei. Daher sei die vorvertragliche Information über dieses Widerrufsrecht für den Verbraucher von grundlegender Bedeutung und erlaube ihm, die Entscheidung, ob er den Vertrag abschließen will oder nicht, in Kenntnis der Sachlage zu treffen. Insbesondere solle das Widerrufsrecht die Möglichkeit gewährleisten, den Vertragsschluss zu überdenken und rückgängig machen zu können, ohne daraus Nachteile zu ziehen.
Daraus folgt, dass der Verbraucher von jeglicher Verpflichtung befreit wird, dem Unternehmer einen Preis für die von diesem während der (um 12 Monate verlängerten) Widerrufsfrist erbrachten Leistungen zu zahlen.
Das Landgericht Essen fragte jedoch, ob der bei Widerruf infolge der erbrachten Leistungen vom Verbraucher erzielte Vermögenszuwachs nicht zumindest nach den Grundsätzen einer ungerechtfertigten Bereicherung ausgeglichen werden müsste.
Der EuGH weist diesbezüglich darauf hin, dass die auszulegende EU-Richtlinie den Zweck verfolge, ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherzustellen, wie es in Art. 169 AEUV und in Art. 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sei. Um dieses Ziel zu erreichen, nehme die Richtlinie „eine vollständige Harmonisierung bestimmter wesentlicher Aspekte der Verträge zwischen Verbrauchern und Unternehmern vor“. In diesem Zusammenhang würden die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, innerstaatliche Rechtsvorschriften weder aufrechtzuerhalten noch einzuführen, die von dem Verbraucherschutzniveau abweichen. Das nationale Recht dürfe also nicht hinter dem auf Europa-Ebene vorgesehenen Schutzniveau zurückbleiben. Das festgelegte Ziel würde in Gefahr geraten, würde es die Auslegung des entscheidenden Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie erlauben, dass einem Verbraucher in der Folge seines Widerrufs des Vertrages Kosten entstehen könnten, die in der Richtlinie nicht ausdrücklich vorgesehen sind. Das deutsche Bereicherungsrecht dürfe also nicht dazu führen, dass ein Verbraucher trotz eines rechtmäßigen Widerrufs diese Kosten zu tragen hätte.
Der EuGH führt mit dieser Entscheidung die sehr verbraucherfreundliche Auslegung des Widerrufsrechts eines Verbrauchers auf Europa-Ebene weiter fort. Einem Verbraucher, der im unternehmerischen Geschäftsverkehr über ein ihm zustehendes Widerrufsrecht nicht belehrt wird, steht nicht nur ein über 12-monatiges Widerrufsrecht zu. Der Verbraucher muss auch keine Kosten tragen, die vor seinem rechtmäßigen Widerruf entstanden sind, inklusive der Werklohnforderung. Das auch wenn die gesamte vertragliche Bauleistung bereits von dem Unternehmer erbracht wurde.
Das Urteil verdeutlich, wie wichtig eine umfangreiche Aufklärung über das Widerrufsrecht gegenüber einem Verbraucher ist. Dem Unternehmer droht eine nutzlos erbrachte Leistung ohne Lohn. Besonders schwer wiegt das, wenn der Unternehmer seine Leistungen schnell, also innerhalb der verlängerten Widerrufsfrist, vollständig erbringt.
Verfasser: Rechtsanwalt Dirk Geißler