Bestandskräftig heißt nicht immer bestandskräftig!
Das ist unerfreulich für die Praxis und kommt überraschend. Der Bundesgerichtshof (BGH) schwächt die Bestandskraft von Eigentümerbeschlüssen. Obwohl eine Jahresabrechnung (JA) bestandskräftig beschlossen wurde, ist die Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG bzw. GdWE) zur Korrektur verpflichtet, wenn ein in der JA verwendeter Kostenverteilungsschlüssel später gerichtlich für ungültig erklärt wird. Der BGH fordert, dass die Position neu verteilt und über die JA neu beschlossen wird. Geleistete Zahlungen müssen verrechnet werden. Eigentümerwechsel sind unbeachtlich und kaufvertraglich zu regeln. Im dortigen Fall hatte der Verwalter die im Abrechnungsjahr 2017 aus der Gemeinschaftskasse abgeschlossenen Dachsanierungskosten als Position » auferlegt.
Der Fall:
Im Jahr 2018 wurde die JA 2017 beschlossen. In dieser hatte der Verwalter die Kosten einer 2017 durchgeführten und bezahlten Dachsanierung als Position »Sonderkosten einzelne ET« direkt der Einheit des Beklagten belastet. Dieser ist Teileigentümer eines Kegelbahngebäudes in der aus 22 Einheiten bestehenden Anlage. Der Beschluss über die JA 2017 ist bestandskräftig. Im Zeitpunkt der Beschlussfassung war ein vorausgegangener Beschluss der Versammlung aus Oktober 2017 gültig, wonach die Kosten der Sanierung des Daches des Kegelbahngebäudes von dem Beklagten allein zu tragen sind. Offenbar ging es um einen Beschluss gemäß § 16 Abs. 4 WEG aF, also in der bis zum 30.11.2020 geltenden alten Gesetzesfassung, wonach bei doppelt qualifizierter Stimmenmehrheit die Kosten einer baulichen Maßnahme im Einzelfall abweichend von dem unverändert weiter geltenden Kostenverteilungsschlüssel verteilt werden dürfen, wenn der Schlüssel das Erfordernis der sog. Gebrauchsmöglichkeit berücksichtigte und auch ansonsten ordnungsmäßiger Verwaltung entsprach. Diesen Beschluss hatte der Beklagte angefochten und mit Urteil vom 11.02.2019 rechtskräftig obsiegt. Trotzdem klagte die Gemeinschaft die Nachzahlung aus der JA 2017 ein, da der Abrechnungsbeschluss bestandskräftig war. Amtsgericht und Landgericht gaben der Klage statt. Der BGH sieht das anders.
Die Entscheidung:
Der BGH hält die Klage für unbegründet. Der Hausgeldanspruch bestehe nicht, da die Klage rechtsmissbräuchlich war. Der in der erfolgreichen Anfechtungsklage verwirklichte Minderheitenschutz liefe andernfalls ins Leere. Der Beklagte sei nicht angehalten gewesen, auch den Beschluss über die Jahresabrechnung anzufechten. Eine solche Klage sei mit einem erheblichen Prozesskostenrisiko behaftet gewesen, da zum damaligen Zeitpunkt die Anwendung des am Ende rechtswidrigen Schlüssels korrekt gewesen sei.
Auswirkungen und Folgerungen für die Praxis
Bestandskräftig abgerechnete Jahre müssen neu abgerechnet werden, wenn in den Abrechnungen benutzte Kostenverteilungsschlüssel Gegenstand von am Ende erfolgreichen Anfechtungsklage waren. Das Prekäre daran ist, dass sich Beschlussanfechtungsklagen durchaus über viele Jahre hinziehen können und möglicherweise viele Jahre nachträglich neu abgerechnet und jedenfalls in den gerichtlich „kassierten“ Einzelpositionen neu beschlossen werden müssen. Im Fall des BGH ging es lediglich um ein Jahr und eine einzelne Position in einem Einzelfall. Das ist überschaubar. Deutlich ungemütlicher wird es, wenn es nicht um die abweichende Verteilung von einmaligen Kosten einer Sanierungsmaßnahme in einem konkreten Einzelfall geht, sondern eine Änderung eines oder mehrerer Kostenverteilungsschlüssel mit Dauerwirkung. Eine weitere Steigerung dieses Dilemmas liegt darin, wenn auf der Grundlage derartiger Beschlüsse im Außenverhältnis Verträge abgeschlossen wurden, beispielsweise Darlehensverträge der GdWE mit einer Kostenverteilung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 WEG der zufolge nur einzelne Eigentümer über ihre Hausgeldzahlungen an Zins und Tilgung beteiligt werden.
Anfechtungsklagen haben keinen Suspensiveffekt. Trotz einer Klage muss der Verwalter derartige Beschlüsse umsetzen. Enthält der Beschluss eine Änderung oder eine Abweichung von der Kostenverteilung, gilt das ebenso. In Abrechnungen, Wirtschaftsplänen und Sonderumlagen sind daher die angefochtenen, aber dennoch gültigen Beschlüsse zu beachten. Ein Korrekturvorbehalt muss nicht in den Beschlussantrag aufgenommen werden. Dies ergibt sich aus dem Gesetz. Wer mag, kann natürlich unter Servicegesichtspunkten einen solchen Hinweis liefern.
Dem beklagten Hausgeldschuldner schadete es im Ergebnis nicht, den Beschluss über die JA 2017 nicht angefochten zu haben. Es genügte, den Beschluss über die Dachsanierung anzufechten und damit durchzudringen.
Da sich 2019 herausstellte, dass die abweichende Kostenverteilung bezüglich der Dachsanierung rechtswidrig war, muss die JA 2017 bezüglich der Einzelposition korrigiert und einer korrigierenden Zweitbeschlussfassung zugeführt werden. Die Kosten der Dachsanierung sind auf alle Wohnungseigentümer nach dem allgemeinen Verteilerschlüssel zu verteilen.
Anstelle von § 16 Abs. 3 und Abs. 4 WEG aF gilt jetzt § 16 Abs. 2 Satz 2 WEG. Grob gesagt ist er eine Kombination beider Vorschriften. Mit einfacher Stimmenmehrheit können sowohl dauerhafte Änderungen als auch einmalige Abweichungen bei der Kostenverteilung beschlossen werden. Das Urteil des BGH hat also auch zur neuen Gesetzeslage Beachtung zu finden.
Vor Übernahme einer Gemeinschaft sollten Verwalter prüfen, ob über bestimmte Kostenverteilungsschlüssel Beschlussklagen anhängig sind. Falls ja, muss der Verwalter den angefochtenen, aber schwebend gültigen Schlüssel zwar benutzen. Dennoch aber ist die Bestandskraft von Beschlüssen über JA, WP und SU mit einem solchen Schlüssel mit Vorsicht zu genießen. Geeignetes Hilfsmittel für die Prüfung ist die Beschluss-Sammlung. Darin sind Gerichtsverfahren (Beschlussklagen) zu vermerken.